Dienstag, 23. Januar 2007

Geschichte im Netz – Praxis, Chancen, Visionen

Wolfgang Schmale: Geschichte im Netz – Praxis, Chancen, Visionen

Im Beitrag „Geschichte im Netz – Praxis, Chancen, Visionen“ liefert Prof.Wolfgang Schmale zwei Denkansätze zur Thematik wissenschaftlicher Fachrichtungen (nicht unbedingt nur auf das Fach Geschichte anwendbar) in den Weiten des World Wide Webs. Einerseits gibt es sehr positive Aspekte, andererseits sollte man auch stets kritisch gewisse Tendenzen beobachten, analysieren und aus Fehlern lernen. Gegliedert ist der Beitrag in die Abschnitte Praxis, Chancen und Visionen, auf die jeweils sehr ausführlich eingegangen wird. Ich persönlich hätte „Risiken“ gerne noch als eigenen Abschnitt behandelt gesehen – sie sind durchaus so zahlreich, dass sie dies verdient hätten ;)

Geschichte im Netz: Praxis

Wie sieht der heutige Stand aus? Wie ist das Fach Geschichte im Netz vertreten? Rein formell betrachtet eigentlich sehr gut. Es gibt zahlreiche Webseiten, Maillinglisten und Portale im Netz, die sich in irgendeiner Art und Weise mit „Geschichte“ beschäftigen. Dies würde zunächst positiv klingen, wäre hier nicht der bittere Nachgeschmack, dass ein Großteil dieser Seiten geschichtsinteressierten Laien zuzuschreiben sind und die Inhalte wissenschaftlich weder überprüft sind, Fakten weggelassen oder schlichtweg verdreht werden und oftmals auch weder Quellen noch Autoren zitiert werden. Auch wenn dies ein wenig pessimistisch klingen mag, nicht desto trotz ist die Geschichtswissenschaft einer der aktivsten Produzenten von wissenschaftlichen Webinhalten. (Wozu wir ja auch in unserem Kurs eifrig beitragen…)

Eine bislang vernachlässigte Sparte erwähnt der Autor ebenfalls: PCspiele und Webgames mit geschichtlichem Hintergrund erfahren immer größere Beliebtheit. Das wäre ja an und für sich nichts Schlechtes, wenn es unserem Fach eine steigende Aufmerksamkeit und Interesse von Laien bringen würde – es hat nur einen unangenehmen Beigeschmack. Rechtsradikale Inhalte, verdrehte Fakten oder schlichtweg Unwahrheiten werden für breite Massen zur Tatsache, wenn sie nicht ständig kritisch hinterfragt werden.

Trotzdem bringt das Zusammenspiel bisheriger geschichtswissenschaftlicher Praxis und Neuer Medien auch Veränderungen und neue Perspektiven, die durchaus positiv sein können.
Sie beeinflussen sich auch gegenseitig, neue Medien verändern alte Medien oder werden an alte Medien angepasst („Remediation“)
Ein Beispiel: Das Layout von Büchern wird an die Seitengestaltungstechniken des Webs angepasst. (siehe den Band „Frühe Neuzeit“ der Reihe Oldenburger Geschichte Lehrbuch, hier sind das Inhaltsverzeichnis und Buch ähnlich einer Website aufgebaut)

Einen weiteren interessanten Denkansatz liefert die Diskussion um die Bedeutungsunterschiede des Wortes Hypertext, dem wir in dieser Lehrveranstaltung ja auch des Öfteren begegnet sind.
Hypertext hat im geschichtswissenschaftlichen Sinn eine andere Bedeutung als im allgemeinen Verständnis der Web-Sprache.
Die Struktur von wissenschaftlichen Texten muss an die Gegebenheiten des Web und des Bildschirms angepasst werden, der Inhalt muss prägnant und portioniert wiedergegeben werden. Die sinnvolle Verknüpfung dieser Textmodule ist Aufgabe des Users.

Hier kommt ein Vorwurf an Web-Publikationen zum Zug: Diese stellen nur den Diskussionsstand dar, aber keine gesicherten Ergebnisse. Gleichzeitig ist derzeit aber auch eine Vervielfachung von gedruckten Publikationen beobachtbar. Der Vorwurf sollte sich auch an gedruckte Publikationen wenden und nicht nur elektronischen Publikation angelastet werden.

Er kann aber auch durchaus positiv gesehen werden - als neuer Weg zur Wahrheitsfindung, weg von autoritärer Lehrhaltung (= Weg demokratisierter wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion). Dass wir dabei nicht bei Wikipedia landen müssen, sollte sich von selbst verstehen.
(Mir ist es noch immer unerklärlich, wieso es keine wissenschaftlich fundierte Wikipedia gibt, in denen nicht Laien, sondern Wissenschaftler publizieren und unterschiedliche Denkansätze und Theorien veröffentlichen…ist dies der Forscherneid? Oder hängt es damit zusammen dass Publikationen im Internet nicht für die wissenschaftliche Karriere zählen?)
Die Tendenz, Texte im alten und im neuen System zu publizieren ist wichtig. Es zeigt, dass sich beide Systeme brauchen und nicht austauschbar sind. Sehen wir uns nur mal das Buch an – wie oft wurde ihm der Untergang vorhergesagt?
Fernsehen, Radio, Zeitungen, das Internet und schließlich noch das sehr enttäuschende E-book wurden alle einmal im Laufe der Geschichte als potentielle Mörder des Buches angesehen – trotzdem erfreut es sich nach wie vor größter Beliebtheit.
Internetrecherche kann beispielsweise als gute Ergänzung gesehen werden, ist aber gänzlich anders aufgebaut und liefert andere Inhalte als eine Recherche in der Bibliothek.

Durch die Verknüpfung der Bibliothek mit dem Internet, elektronischen Datenbanken und beispielsweise dem Einscannen und online archivieren alter Quellen lassen sich beide Bereiche allerdings optimal verbinden.

Chancen

Welche Chancen ergeben sich durch die Transformation und was kennzeichnet sie?

Die Beschleunigung von Kommunikation, Rezeption und Verarbeitung von Wissen

Dieses Potenzial wird derzeit nur ansatzweise genutzt.
Viele Wissensbestände im Web entsprechen nicht den wissenschaftlichen Kriterien. Dadurch hat das Publizieren im Web bei vielen Historikern kein großes Ansehen, dennoch verbessert sich die Qualität der publizierten Seiten ständig.
Es stellt sich die Frage, wann der Sprung ins Netz von allen Historikern vollzogen wird, wann Forschungsimpulse direkt vom Web ausgehen.
Ich denke dies wird noch dauern bis eine neue (vielleicht meine) Generation von Historikern nachgerückt ist.
Ich stoße bei älteren Professoren heute noch manchmal auf Unverständnis bei der einfachen Frage nach ihrer Email-Adresse, vielleicht muss sich das World Wide Web hier noch verbreiten und auch in den universitären Lehrplan und wissenschaftlichen Alltag mehr integriert werden, Ansätze dazu sind ja in den letzten Jahren einige gemacht worden.

Tendenziell breiteres Publikum

Geschichtliche Diskurse und Inhalte könnten durch ihre Publikation im Netz ein breiteres Publikum erreichen. Ich kann zwar das Publikum in Fachbibliotheken eingrenzen, im World Wide Web jedoch nicht – hier könnten unzählige Interessierte ohne globale Grenzen erreicht werden.
Allerdings ist die Barrierefreiheit im Web durch unterschiedliche Publikationssprachen stark eingeschränkt. Eine Lösungsmöglichkeit für dieses Problem wäre gemeinsame Qualitätsstandards zu schaffen und zu erhalten.
Dies stellt meiner Meinung nach zwar eine große Herausforderung dar, könnte jedoch zu meistern sein.
Immerhin gibt es auf der technischen Seite des WWW durchaus internationale gemeinsame Standards, wieso nicht auch auf der inhaltlichen?
Eine Gefahr des Webs stellt sicher der nicht kontrollierbare Informationsfluss dar – und die daraus resultierende mögliche missbräuchlicher Verwendung wissenschaftlicher Ergebnisse.
Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass wissenschaftliche Ergebnisse schon immer auch missbraucht wurden – da brauche ich kein Web dafür.
Früher wurden vielleicht Akten kopiert oder Mikrofilme und Kassetten weitergegeben, und ein verschlüsseltes Portal kann genauso sicher oder unsicher wie ein verschlossener Aktenschrank sein…
Solange nicht der „wissenschaftliche Elfenbeinturm“ im Netz neu gebaut wird, d.h. eingeschränkter Zugang zu wissenschaftlichem Material forciert wird und trotzdem auf Sicherheit geachtet wird sehe ich dieser Entwicklung zu einer breiteren, offenen und interessierten Publikumsmenge sehr positiv entgegen.

Multimedialität und Interdisziplinarität

Das Interesse an Bildquellen hat in den letzten 25 Jahren in der Forschung zugenommen.
Auch Analyse von Foto- und Filmquellen und andere audiovisuelle Quellen haben immer mehr an Beliebtheit gewonnen.
Das Web fördert die gleichzeitige Verwendung unterschiedlicher Quellengattungen.
Multimedialität bedeutet Inter- und Multidisziplinarität.
So wird der Blick der Geschichtswissenschaft erweitert, Ergebnisse und Blickrichtungen verschiedenster Fachrichtungen können verglichen, verknüpft und ergänzt werden und ganz neue Perspektiven eröffnen.
Die Strukturen des Webs fordern Interdisziplinarität in allen Forschungsrichtungen, ein meiner Meinung nach sehr positiven Aspekt. Um das wissenschaftliche Ansehen des Webs zu fördern, muss allerdings auch zuerst das Ansehen interdisziplinär arbeitender Wissenschaftler/innen insgesamt gefördert werden...

E-Learning
E- Learning in seinen zahlreichen Formen erhöht die Kommunikation und fördert das selbst-gesteuerte Lernen.
Es bildet einen Teil der Alltagskultur ab und bietet den Vorteil, Forschungsprobleme auch größeren Gruppen adäquat zu präsentieren.
E-Learning ist eine zentrale Chance für Lehrende und Lernende, auch außerhalb von Universitäten und Schulen.
Nimmt die Verbreitung des Internets weiterhin zu, können entlegene Winkel erreicht und Bildungshungrige versorgt werden.
Die Diplomarbeitsbetreuerin einer meiner Kolleginnen sitzt beispielsweise aus Forschungszwecken (nicht lachen!) in Grönland – trotzdem kann sie sich ständig mit ihr austauschen und mittels Videokonferenzen auch persönliches Feedback einholen.

Wissensnetzwerke

Das Web verändert die Beziehung von „Individuum“, „Kollektiv“ und „Wissen“. Das Individuum als Wissensdominator wird geschwächt, es wird Teil eines Wissensnetzwerkes.
Neben Multimedialität werden Programmiertechnik und Mediendesign wichtig.Den neuen Verwendungsmöglichkeiten angepasste Software als Teil des neuen Systems wird wichtig.

Visionen

Kulturhistorisch wird das Web als Medienrevolution gesehen – vergleichbar mit dem Übergang zur Schrift und der Buchdruck.
Revolution bedeutet allerdings nicht die Schnelligkeit der Transformation sondern ihre Fundamentalität.

Wann war eigentlich das fundamentale Moment des World Wide Web? Auf das Buch bezogen können wir die Guttenbergbibel anführen, bezüglich des Webs wird das Ganze schon schwieriger.

1991 wird in der Literatur gemeinhin als das Erfindungsdatum des Internets genannt.
Als fundamentales Moment können wir die erste vom Papst genehmigte Vatikanische Webseite 1995 heranziehen – aber wann ist die Transformation vollzogen?
Dazu muss man Medienrevolutionen als Teil von Kulturveränderung begreifen.
Der Kulturbegriff selbst ist als komplexer Code zu verstehen, Subcodes sind: Texte, Bilder, Videos und dergleichen.
Das Web ist als Codierung der Zivilisation zu verstehen. Bestehende gesellschaftliche Gruppen werden zersetzt. Loyalitäten schwenken in kurzfristigere Loyalitäten um, das Individuum nimmt eine neue Position ein. Pessimisten sehen diesen Wandel als Verlust, vielleicht bietet er jedoch auch Chancen.
Die Veränderung der Zivilisation bringt eine Veränderung geschichtswissenschaftlicher Positionen mit sich.
Gegenwartsgeschichte funktioniert nach dem Hypertext-Muster, Geschichte lässt sich im Hypertext-Muster darstellen. Auch unsere Fragen an die Geschichte sind immer gegenwartsgebunden.

Vision

Das Netz als Code wird nicht statisch bleiben. Interdisziplinarität und Multimedialität beeinflussen die Fragestellung, ihre optimale Nutzung in Verbindung mit Technik muss vollzogen werden. Geschichte wird zum Fluss geschichtlicher Kohärenzen.
Es entsteht ein neues Beziehungssystem zwischen Zivilisations-Netzwerk, Geschichtswissenschaft als Netzwerk unterschiedlicher Zeitebenen und dem Web als Netzwerkmedium.

Ich finde es dringend an der Zeit im gesamten universitären Raum auf diese neuen Chancen (und auch Risiken) einzugehen. Erfreulich finde ich, dass die Geschichte, obwohl oftmals als verstaubt verschrien, einer der ersten Fachrichtungen war, die sich mit dem Web auseinandergesetzt hat und dessen Möglichkeiten ergründet haben.
Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Gemeinsame Qualitätsstandards, Kontroll- und Schutzmechanismen elektronischer Publikationen müssen geschaffen werden, auch eine Imageaufbesserung ist dringend notwendig. Historiker wir Anton Tantner und Jan Hodel, die in dieser Funktion Blogs betreiben, müssen zahlreicher werden. Projekte wie „Geschichte Online“ der Universität Wien oder IGL, aber auch Lehrveranstaltungen wie diese hier sollten mehr gefördert werden.

Es gilt die Scheu vor dem Web zu verlieren und sich seinen Herausforderungen zu stellen – die Vorteile der wissenschaftlichen Publikation im Internet sind meiner Meinung nach überwiegend, trotz aller Risiken.

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Claudia Brandstetter
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